Hongkong ist für Foodies Himmel und Hölle zugleich
Hongkong ist mit seinen unzähligen Lokalen, Märkten und Läden eine Art Schlaraffenland. Nur: Einen elastischen Magen sollte man schon haben – dann schmecken selbst die exotischsten Zutaten, von unbekannten Meerestieren bis zu klebrigen Moon Cakes.
Fettig, salzig, süß. Das Gegenmittel für einen Kater ist überall auf der Welt gleich. Das Restaurant „Wong Ming Kee“ im Hongkonger Stadtteil Kowloon bietet außerdem das passende Ambiente: nichts Anstrengendes oder gar Formelles. Durch eine Glastür geht es von der Straße direkt in den Speiseraum mit Resopaltischen, himmelblauen Kunststoff-Sitzbänken und kreisenden Deckenventilatoren.
Kaum bestellt, stehen die Speisen schon auf dem Tisch: eine knoblauchlastige Schweinebrühe mit Nudeln, Fisch- oder Fleischklößchen, gedämpfter Eisbergsalat mit einer schwarzen, dicken, süßlichen Sauce. Dazu eine Limo aus leuchtend grünen Dosen. Von dieser Art Restaurant gibt es unzählige in Hongkong. Welche davon besonders gut sind, das ist für Außenstehende allerdings schwer auszumachen.
Außenstehende sind in diesem Fall gleich elf Spitzenköche aus aller Welt, die alle für die Rosewood-Hotelgruppe arbeiten. Und die sich im Hongkonger Mutterhotel zum Erfahrungsaustausch und Kochen getroffen haben. Am Tag zuvor, an ihrem letzten gemeinsamen Abend, so erzählen sie, seien sie im Finanzdistrikt in einer ausgezeichneten Bar namens „The Wise King“ leider etwas versackt.
Trotzdem hat keiner von ihnen die nun anstehende Tour, die von ihrem Hongkonger Kollegen Wong Chun Yee geleitet wird, verschlafen. Yee ist Executive Souschef im Hotelrestaurant „Legacy House“. Der Mittvierziger ist im Stadtviertel Kowloon aufgewachsen und kennt die Gegend gut – weshalb er seine verkaterte Truppe zunächst in besagtes „Wong Ming Kee“-Lokal führt. Das Essen dort hilft, es weckt schlagartig die Lebensgeister.
Kaum identifizierbares Getier
Hongkong ist zugleich Streetfood-Paradies und -Hölle. Wo anfangen, wo aufhören mit dem Essen? Es gibt ein überwältigendes Angebot an Produkten, Restaurants und Speisen, die aufgrund der Sprach- beziehungsweise Schriftbarriere für Urlauber oft nicht zu dechiffrieren sind. Dazu kommen rätselhafte Auslagen in den Geschäften und Respekt einflößendes, nur teilweise eindeutig identifizierbares Getier auf dem Markt.
Da lassen sich selbst polyglotte Köche gerne an die Hand nehmen. Wer nicht das Glück hat, von einem Küchenchef persönlich geführt zu werden, bucht am besten eine der Food-Touren, die in vielen Stadtvierteln und für diverse kulinarische Vorlieben angeboten werden. Tripadvisor bietet einen guten Überblick inklusive Bewertung der beliebtesten Anbieter, von der Streetfood-Tour über Marktbesuche mit Teigtaschenworkshop bis zum Probierrundgang durch das Stadtviertel Mongkok.
Chefkoch Yee empfiehlt eine Gegend nahe am Kowloon Tasi Park: die Nga Tsin Wai Road mit ihren Querstraßen, wo sich ein kleiner kulinarischer Betrieb an den nächsten reiht. Aus dem Zentrum der Stadt kommend, geht es mit der U-Bahn bis Lok Fu und zu Fuß durch das Gelände der ehemaligen „Kowloon Walled City“: ein mythenumrankter Ort und Vorbild für viele dystopische Filmsettings.
Einst stapelten sich in den düsteren Hochhäusern 33.000 Menschen auf gerade mal 2,7 Hektar Fläche. Anfang der 90er-Jahre wurde der gesamte Komplex abgerissen. Heute ist das Gelände ein Stadtpark. Nicht weit entfernt liegt der Kowloon City Wet Market.
Wet Markets haben spätestens seit der Corona-Pandemie nicht den besten Ruf, da in den Markthallen auch lebendige Tiere verkauft oder frisch geschlachtet werden. Auf diesem Markt wirkt zumindest alles sehr reinlich. Mit dem Blick des europäischen Tierschützers würde man hier allerdings schnell an seine Schmerzgrenze stoßen.
Ob es die Hühner in Käfigen sind, die neben Beilen und Schlachtbänken auf Käufer warten, die Wassereimer voller Kröten oder die nach Luft schnappenden Fische in Aquarien: Die Tatsache, dass hier Lebewesen zum Verzehr angeboten und dafür getötet werden, kann in Hongkong – anders als vielleicht in einem deutschen Supermarkt – nicht ins Unterbewusstsein verdrängt werden.
Teelokale in Hongkong gäbe es ohne die Briten nicht
Andererseits fallen auf dem Markt und in den Straßen ringsherum die prächtigen Gemüsestände ins Auge: Reihen und Reihen von Blattgemüse und Kräutern, gleich mehrere Sorten Pak Choi, diverse Lauchgewächse und Kohlköpfe. Yee greift zu, begutachtet und bewertet: „Es gibt Winter- und Frühjahrbambus, sie schmecken unterschiedlich. Ebenso Ingwer: Den gibt es nur zwei Monate im Jahr frisch, der kommt in ganz anderen Gerichten zum Einsatz als Ingwer mit der braunen Schale.“
Dass die kulinarische Szene Hongkongs neben der von Bangkok die spannendste ganz Asiens ist, darin sind sich alle Chefköche auf dieser Tour einig. Asiatische und europäische Einflüsse treffen in Hongkong aufeinander – schließlich herrschte Großbritannien von 1841 bis 1997 über die Kolonie, mit kurzer Unterbrechung fast 150 Jahre.
Sandwiches zum Beispiel oder Schwarztee mit Milch sind kulinarische Spuren, die die Briten hinterließen. Aus ihnen entwickelten sich die „Cha Chaan Teng“, Hongkongs berühmte Teelokale, die zum Milchtee (der mit gesüßter Kondensmilch zubereitet wird) traditionell knusprige Ananasbrötchen mit Butter servieren. Heutzutage werden oft auch kleine Reis- oder Nudelgerichte aufgetischt.
Ungleich einflussreicher als die britische ist die chinesische Küche. Wobei „chinesisch“ ein weites Feld beschreibt: „Die chinesischen Köche arbeiteten lange Zeit nicht in Restaurants, sondern am Hofe des Kaisers oder bei hochrangigen Familien“, erzählt Yee. Im Laufe der Jahrhunderte seien einige aus China nach Hongkong gekommen und hätten ihre regionalen Rezepte mitgebracht.
„China hat viele Küchen“, sagt er, „und sie alle hatten Zeit, sich hier weiterzuentwickeln und zu vermischen. Das macht Hongkong kulinarisch so interessant.“ Er deutet auf die Decke eines kleinen Ladens, von der fette, geräucherte Schinken und Würste hängen: „Typisch für Shanghai“, sagt er. Eine Straße weiter gibt es Sichuan-Küche, bekannt für ihre Schärfe, kein Gericht ohne Chilischoten.
Der Weg der Nudel nach Europa
Aber auch Europa wurde von dieser Seite der Welt nachhaltig beeinflusst, denn aus China kam die Nudel auf den alten Kontinent. Wie und wann genau, darüber wird bis heute diskutiert. Aber Fakt ist: Die Nudelkultur, oder vielmehr der Nudelkult, aus Hongkong muss sich vor der italienischen Pastakultur keinesfalls verstecken.
Yee führt seine Gruppe in die gut einhundert Jahre alte Manufaktur Chang Ming Kee. In den Regalen stehen Schraubgläser, in denen lange dünne Nudeln, die an Tagliolini erinnern, zu Päckchen gefaltet liegen. Ein bisschen sehen sie aus wie Exponate im Naturkundemuseum. Sie werden in allen möglichen Geschmacksrichtungen und Farben angeboten: traditionell als Eiernudeln mit gemahlenen Shrimps oder getrocknetem Fisch als Untermischung, aber auch – hallo Italien! – mit Spinat oder Tomate.
Nur langsam geht es weiter. Ständig bleiben die Augen an einem Produkt hängen, die Nase darf ihr Leistungsspektrum vorführen. Man kann sich hier in jedem kleinen Laden besser verlieren als in den großen Shoppingmalls der Innenstadt. Viele Geschäfte sind hoch spezialisiert, verkaufen nur Suppenbasen, getrocknete oder eingelegte Produkte, Gewürze oder Tofu.
Die Hongkonger sind Meister darin, Zutaten haltbar zu machen. Fischbauch, erst frittiert und dann getrocknet, ergibt aufgekocht eine gelatinehaltige Suppe: „Trinken, danach bist du gesund“, lautet das Versprechen. Mancher Anblick ist gewöhnungsbedürftig, zum Beispiel die im Ganzen getrocknete und zusammengefaltete schwarze Ente, die aussieht, als käme sie aus einer archäologischen Ausgrabungsstätte.
Yee lotst seine Gruppe weiter, zum „Tsuen Shing Roast Restaurant“, wo appetitlichere, gebratene Enten im Schaufenster hängen und Hähnchen in fettigem Papier eingewickelt auf einem Tisch auf dem Gehweg stehen. Kleinigkeiten werden hier durchs Fenster auf die Straße gereicht.
Mitspracherecht gibt es in diesem Fall jedoch nicht: Grillfleisch ist (neben Shrimp-Dumplings) Yees Lieblingsgericht. Für seine Gruppe wählt er Schweinebauch mit viel Senf sowie knusprige Ente, die zugleich süß, salzig und klebrig ist und sensationell schmeckt, viel besser als die bei uns im China-Restaurant übliche Ente süßsauer.
Auf knusprige Ente folgt klebriger Kuchen
Danach geht es auf den Nachtisch zu. In der Yee Heung Bean Product Company dreht sich alles um Sojabohnenerzeugnisse, in den Kühlschränken stehen unterschiedlich große Gläser mit Tofu in Schattierungen von cremig bis schneeweiß und in verschiedenen Festigkeitszuständen. Wir essen kühles Tofu Fa aus kleinen Schälchen, dessen Konsistenz an Pannacotta erinnert und von einer Zuckerschicht wie Crème brûlée bedeckt ist. Diese Art von Tofu sei ein beliebter Snack, auch für Kinder nach der Schule, sagt Yee.
Zum Schluss geht es zum Kwai Yue Cake Shop, seit 1948 in der South Wall Road zu Hause. Sein Sortiment besteht aus Bonbons, Sesamgebäck, Pralinen und den berühmten Moon Cakes: herzhaft oder süß gefüllte runde Pasteten, die vornehmlich im Herbst gegessen werden. Hier hat man sich ganzjährig auf diese traditionellen Süßwaren spezialisiert.
Jedes Fest, ob Neujahr, Hochzeit oder eben das Mondfest, hat eigene Süßspeisen und damit verbundene Rituale. Dieser Laden sei einer der letzten seiner Art in Hongkong, sagt Yee: „Die nächste Generation wird ihn nicht mehr erleben.“ Ehrfürchtig füllt Yees Gruppe ihre Taschen – Denkmalpflege, die die Zähne verklebt.
Die Katerstimmung vom Vormittag ist zwischenzeitlich komplett verflogen. Die elf Chefköche ziehen weiter zum Fischmarkt nahe dem Castle Peak Beach in den New Territories im Norden der Stadt. Mitten im Markt liegt das „Tsing Shan Wan Seafood Restaurant“. Jeder Gast sucht sich etwas vom Markt aus, das dann im Restaurant ausgenommen und frisch zubereitet wird.
Seeteufel, Schwertmuscheln, Seebrasse: Hundertschaften essbarer Meerestiere stehen zur Auswahl. Nur von Blood Clams, der Rotfleischigen Archenmuschel, sollte man die Finger lassen, rät ein Koch aus Yees Gruppe. Das sei zwar eine bei Chinesen beliebte Delikatesse, die aber Krankheiten wie Typhus und Hepatitis übertragen könne und „Nummer eins bei Lebensmittelvergiftungen“ sei.
Ansonsten braucht man in Hongkong nur zwei Dinge, um zu genießen: einen elastischen Magen und einen experimentierfreudigen Geist.
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